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Video zur Ausstellung „Mensch wer bist du?“ – gefilmt von Hüseyin Aslan
Mensch, wer bist du? “ Ausstellung – Offenes Haus Evangelisches Forum Darmstadt
vom 23.10.2020-11.12.2020
In seinen keramischen Arbeiten zeigt Joachim Henkel oft in abstrakter Weise die Verletzlichkeit und Zerbrechlichkeit des Menschen. Daraus entstehen Themen, die die Gesellschaft und die Identität des einzelnen berühren.
Eröffnungsrede Andrea Suppmann:
Mensch, wer bist du? Dieser Ausstellungstitel kann die Frage an ein einzelnes Individuum sein „Mensch, wer bist du?“. Es kann aber auch die Spezies Mensch gemeint sein, eine philosophische Annäherung an das Menschsein, wo komme ich her, wo gehe ich hin, welcher Sinn unterliegt dem Ganzen. J.H.’s Blick richtet sich gleichwohl auf den Einzelnen wie auf die Gesellschaft, seine Kunst umkreist Themen wie etwa Geburt, Tod, Identität, Beziehungen, Vernetzung, Technik, Ausgrenzung, Trennung oder Flucht.
Auch in dem Werk „Die Summe der Teile ist das Ganze“ greift J.H. auf ein gesellschaftlich aktuelles Phänomen zurück. Mittig zentrierte Holzstäbe mit weiß bemalten Enden liegen zu einem Kreis formiert auf dem Boden. Unterschiedlich farbige und strukturierte Ovoide sind dicht beieinander liegend auf die Holzfläche gebettet. Auf einem steht „Ich bin Deutschland“. Die „Einheit in der Verschiedenheit“ so kommentiert J.H. diese Arbeit, ein Gemeinsamkeitsgefühl aller, egal welcher Herkunft. Das Nebeneinander unterschiedlich aussehender eierförmiger Keramikobjekte auf einer homogenen Holzfläche ist für ihn ein Zeichen der „Bereicherung durch kulturelle Vielfalt“ und ein Antreten gegen „Egomanie“, „Ausgrenzung“ und „Me First“-Tendenzen. Für mich entsteht hier darüber hinaus ein Bild für den schon seit mehr als einem Jahrzehnt von der UN-Behindertenrechtskonvention geforderten Zustand der Inklusion, dem Deutschland nur sehr zögerlich nachkommt. Ein Desiderat an die Gesellschaft, die Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit aller Teilhabenden zu ermöglichen, indem Barrieren jedweder Art verschwinden und das gilt vor allem für die nicht-physischen Barrieren. In Zeiten, in denen es hierzulande so viele Nationen gibt, so viele Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen, mit diversen Geschlechtern, mit so unterschiedlichen Zugangsmöglichkeiten zur Bildung könnte dies ein Wink mit dem Zaunpfahl sein, alle mitzunehmen, möglichst vielen möglichst viel zu ermöglichen.
„Human being“ nennt J.H. ein Werk, das 3 gleiche Keramikembryonen zeigt, die in Mulden liegen und von Glasscheiben umhüllt sind. Nur ein Glasuterus ist intakt, der andere mit Sprüngen versehen, der dritte zersplittert. Dort wo es Splitter gibt, sehen wir in gleichem Maße Schwärzungen. Sollen wir das als bedrohliche Bedingungen durch toxische Einflüsse auf das ungeborene Kind lesen und sprechen die Splitter von Gewalteinwirkung, so zeichnen sich hier schon ganz unterschiedliche Startbedingungen in ein autonomes Leben ab, das erst viel später beginnt und bereits unter ungünstigen Vorzeichen sich entwickelt. Scheinbar geschützt unterliegen unsere Lebensläufe diversen Einflüssen, so dass uns nicht nur die genetischen Informationen so fundamental unterscheiden.
Höhlenartige Schutzräume sehen wir auch in den verschiedenartigen Nestern als Urform der Behausung für Tiere. Auch wenn die Schalen ein Archetypus der Ton- und Keramikgestaltung sind, so sind diese Objekte doch sehr auffällige Repräsentanten ihrer Art mit einem jeweils individuellen Volumen, in dessen mittige runde Vertiefungen Knöchelchen, Eierschalen oder Embryos gelagert sind. Dies ist zwar ein Hinweis auf die Funktion des Aufbewahrens, die großen Volumina um die kleinen Kuhlen suggerieren aber vielmehr Schutz und Sicherheit. Dass wir hier eher Kunstobjekte und nicht Gebrauchsobjekte im herkömmlichen Sinne sehen, davon zeugen auch die Oberflächentexturen um die Kuhlen, die durch Glasuren und Engoben gefärbt sind, schlingenartiges Gewächs im Wechsel mit einer rauen, felsartigen Patina. Der Ausblick auf einen unbekannten Planeten könnte interessanter nicht sein. Zumindest stellen diese Arbeiten klar, wie professionell J.H. mit dem Material umzugehen weiß, auch wenn er als Künstler, wie nicht wenige Künstler, Autodidakt ist.
„Ich bin“ ist eine ältere Arbeit von Joachim Henkel, die drei gleiche Frauenportraits mit Laserdruck auf Keramik zeigt, davor befinden sich mit Cyanotypie beschichtete Glasscheiben. Die durch die unterschiedlichen Blauspuren veränderte Wirkung des Gesichts zeigt sie fast lächelnd, eher traurig oder nachdenklich. Interessant finde ich hier, dass der sublime materielle Eingriff eine doch erhebliche Ausdrucksänderung bewirkt. In Zeiten der permanenten Modellierung des Selbstportraits, von sekundenschnell geänderten Selfieposen, mag das zwar marginal erscheinen, denn der künstlerische Eingriff braucht Zeit und switcht nicht im Sekundentakt, er sucht Ausdruck und nicht maximale Selbstoptimierung. Die Technik ist grandios, das Smartphone möchte man nicht mehr missen, doch nicht ständig, überall und zu jedem Preis. Diese Art der fotografischen Selbstüberwachung, von der viele Menschen heute fast abhängig sind, kann im Extremfall zu Narzissmus oder Depression führen, denn sie verliert das eigene Ich aus dem Auge.
Die zunehmende Technisierung treibt Joachim Henkel um, das zeigt sich auch in seiner Arbeit, die er „KI+Mensch“ nennt. Auf den ersten Blick nimmt man einen traditionellen Torso wahr, ein stark bearbeiteter, männlicher Oberkörper, mit Rillen, Furchen und Schrammen auf der Oberfläche. Das Gesicht zeigt eine geglättete Gesichtshälfte mit einem Schlitz anstelle eines Auges und einer rechten Hälfte mit Auge und Ohr. Trotz fehlender Arme umspannen hier Rippen den Brustraum, wohingegen die Gegenseite eine einzige klaffende Wunde zu sein scheint mit einer eingebauten Röhre, die auf Brusthöhe im Körperinneren verschwindet und in Ohrenhöhe wieder sichtbar ist. Statt eines Ohres wieder ein Schlitz. Markieren sie Öffnungen für Chips und signalisieren die Technikfragmente die allmähliche Übernahme durch die Maschine? So weit ist es noch nicht mit der humanoiden Technik, aber eins ist klar, nicht nur die Geschwindigkeit, die dem Menschen zugemutet wird, hat sich geändert, die Künstliche Intelligenz hat dem Menschen bereits zahlreiche Aufgabenbereiche abgenommen bzw. wir delegieren kontinuierlich menschliche Fähigkeiten an die Maschine. Tendenz steigend, J.H. weist mit dieser eindrucksvollen Arbeit wieder hinein in eine streitbare aktuelle Debatte um Grenzen und Fortschritt der Technik. Gibt es heute schon mancherorts robotisches Haus- und Pflegepersonal oder Alexas, die uns förmlich jeden Wunsch von der Lippe ablesen, so mögen kritische Gemüter die zunehmende Wearable-Technologie, die uns Schritte misst, Puls überwacht oder Schlaf- und Essverhalten analysiert und prognostiziert als übergriffig empfinden, fast könnte man sagen als entmündigend. Aber sie wird benutzt, optimiert und nicht wenige lassen sich smarte Chips Implantate unter die Haut setzen, als Zutrittskontrollen, um jederzeit bezahlen zu können oder um den Schlüssel nicht mitnehmen zu müssen. Die Schnittstelle Mensch – Maschine wird individuell vermessen, das dem einen grotesk erscheint, ist für den anderen einfach praktisch. Noch ist es nicht soweit: Die digitale Transformation des Menschen zu einem Cyborg ist bisher nur in Filmen vollzogen. Aber wer weiß, was die Zukunft bereithält.
Vernetzt sind wir beinahe alle, „Welt am Draht“, eine fünfteilige Arbeit weist in einer Abfolge von quadratischen Tafeln auf die Anonymität und Einsamkeit des Menschen hin. Eingekreist von Drähten sehen wir unterschiedliche Figurenkonstellationen, vielleicht Communities, allesamt in schwarz gezeichnet, mal 6 mal 4. Zwei in weiß stilisierte Personen bilden eventuell eine Gegengruppe und am Ende sieht man eine isolierte Person. Wird sie ausgegrenzt, ist sie nicht mehr am Draht? Auch hier wirft J.H. einen gesellschaftskritischen Blick auf Phänomene wie Cybermobbing, Shitstorms oder Hate Speech, Formen von anonymen Übergriffen, die in dieser mediatisierten Gesellschaft offensichtlich keine Einzelphänomene sind. Die sozialen Medien haben zwar die zirkulierenden Datenmengen ins Unermeßliche gehoben und den einen oder anderen zum gläsernen Menschen gemacht, aber zugleich eine Vielzahl von Manipulation und Missbrauch ermöglicht, dem wir oft im Erkennen hinterher hinken.
Zuletzt möchte ich noch auf zwei genuin keramische Arbeiten hinweisen, zwei quadratische Relieftafeln aus Keramik. Mit dem Titel „Am Anfang als alles begann“ sehen wir Skelettreste eines Urtiers, welches ganz sanft mit Kalk überzogen zu sein scheint, versteinerte Knochenreste drücken sich unter Sedimentsschichten hervor, das Zentrum bilden ein paar metallene Rippen im Gleichtakt. An wessen Anfang steht dieses Elefantenfossil, fragt man sich da sogleich. Man muss nicht den Kontinent wechseln, glaubt man einer Sonderausstellung des Berliner Naturkundemuseums aus dem Jahr 2012, das 200.000 Jahre alte Elefantenfossillien dokumentierte und zwar aus dem Raum Halle, Elefanten habe es in Deutschland gegeben, weit größer als Mammuts.
J.H. wirft nicht nur einen Blick in die Vergangenheit, sondern auch in die Zukunft. „Am Ende, was bleibt“ so der Titel des letzten Reliefs, einer mit Rauchbrand versehenen Keramiktafel. Rot glühende Flächen sieht man, scharfe Grate und tiefe Spalten sowie ein höhlenartig sich erhebendes Gestein, perforierter Tuff aus vulkanischen Eruptionen. Was vom Titel betrachtet nach dem Ende eines Ehedramas klingt, ist ein kunstvolles inszenieren von Materialien, ein Ausblick auf einen neuen Planeten oder könnte es so aussehen, wenn es sich ausgelebt hat auf diesem Planeten?
Andrea Suppmann, Darmstadt 23.10.2020